»Und es werde Musik!«

Gija Kantschelis MUSIK FÜR DIE LEBENDEN als Loblied auf die Kraft der Musik
Die Aufführung dieser in Vergessenheit geratenen Oper bildet den Auftakt zur neuen Ausgabe der preisgekrönten Bonner Reihe FOKUS’33. Dieses Mal beschäftigt sich das Theater Bonn mit der Entdeckung von Raritäten, die in der Opernlandschaft des 20. Jahrhundert neue Wege erkundet und nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten als die etablierte Avantgarde gesucht haben. »Ich hätte diese Oper nie komponiert, wenn Jansug Kakhidze nicht zum künstlerischen Leiter des Tifliser Operntheaters ernannt worden wäre.« Mit dieser Feststellung verweist der georgische Komponist Gija Kantscheli (1935–2019) auf die außergewöhnlichen Umstände, die zur Entstehung seines einzigen Bühnenwerks MUSIK FÜR DIE LEBENDEN führten. Die Oper entstand Anfang der 1980er Jahre in enger Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Jansug Kakhidze (der zu seiner Zeit den Spitznamen »der Georgische Karajan« trug) und dem Regisseur Robert Sturua, mit denen Kantscheli über Jahrzehnte hinweg eine enge künstlerische Freundschaft verband.
Bis 1982 hatte sich Kantscheli als Komponist von Sinfonien und Theatermusik einen Namen gemacht. Insbesondere am Schota-Rustaweli-Theater in Tiflis, wo er ab 1971 die Musikabteilung leitete, prägte er die Klangsprache zahlreicher Inszenierungen. Seine Musik war mehr als Untermalung, sie bestimmte oft die innere Dramaturgie der Aufführungen mit. Die Idee, eine Oper zu schreiben, entstand aus dieser tiefen Theaterpraxis heraus. Die Bühne, so Kantscheli, sei für ihn nie bloßes Dekor, sondern ein existenzieller Raum, in dem Musik als lebendige Kraft agiert. MUSIK FÜR DIE LEBENDEN wurde zu einer Art Anti-Oper. Kantscheli und Sturua verzichteten bewusst auf konventionelle Opernmechanik – keine Rezitative, keine Arien im klassischen Sinn, kein klarer Plot. Stattdessen eine lose Szenenfolge, in der Musik, Bild, Bewegung und Wort gleichwertige Ausdrucksträger sind. Das Libretto besteht aus fragmentierten Texten – Silben, Wörtern, Lauten –, die die Grenzen zwischen Sprache und Klang verwischen.
Die Bühne des »Welttheaters«, auf der die Handlung spielt, stellt eine postapokalyptische Welt dar: ein zertrümmertes Sinngefüge, das von Kindern, Musik und Erinnerungen langsam wieder zusammengesetzt wird.
Im Zentrum steht der Gesang, eine leise, verletzliche Linie, die sich aus einem Halbton-Stöhnen entwickelt und sich nach und nach in melodische Wellen entfaltet. Der »Gesang« ist nicht nur musikalisches Motiv, sondern Symbol für Überleben, Zärtlichkeit und Widerstand.
Ein alter Mann mit einer Geige, der aus den Trümmern ein einfaches Motiv spielt, wird zur Verkörperung dieser Kraft. Ihm gegenüber steht das »böse Lager«: Offizier, Frau mit Peitsche, Militärkapelle – Figuren, die Gewalt ausüben, aber selbst keinen Ton hervorbringen können.
Ein weiteres zentrales Element ist der Walzer – seit den 1950er Jahren ein vielschichtiges Motiv in Kantschelis Werk. In MUSIK FÜR DIE LEBENDEN wird er an sehr unterschiedlichen Stellen eingesetzt: als sanftes Kinderlächeln, als ironischer Tanz der Macht, als melancholische Elegie. Besonders eindrucksvoll: Der Walzer, der den alten Mann vor den Kugeln eines Offiziers bewahrt – Musik als schützende, fast übernatürliche Kraft.



Die Oper spielt nicht nur mit musikalischen Formen, sondern auch mit Theatertraditionen. Der zweite Akt beginnt mit einer »Oper in der Oper« namens LIEBE UND PFLICHT. Sie enthält Sologesang, Belcanto und pathetische Liebesduette – eine scheinbar vertraute Welt, die jedoch in grotesken Zerrbildern mündet. Statt Ablenkung bietet diese Ebene Spiegel und Kontrast: Die glitzernde Oberfläche des Spektakels kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es letztlich die leise Musik der Überlebenden ist, die Sinn stiftet. In der vorletzten Szene (»Das Erwachen«) wandelt sich die Oper zum Concerto grosso: Solisten, Chor, Orchester und ein Streichtrio verweben sich zu einem großen musikalischen Finale. Am Ende erklingt die programmatische Zeile »Und Gott war ein Lied« – ein leiser, fast unscheinbarer Höhepunkt, getragen von Moll und Andacht. Der georgische Originaltitel der Oper lautet nicht umsonst ARS MUSICA – »Und es werde Musik«.
MUSIK FÜR DIE LEBENDEN bleibt Kantschelis einzige Oper. Vorschläge zu weiteren Bühnenwerken existierten, doch die politischen Umstände in Georgien machten sie unmöglich. Die Autoren der Oper wurden in den frühen 1990er Jahren als »kosmopolitisch« und »antinationale Kräfte« diffamiert, Kantscheli floh 1991 ins Ausland. Der Bürgerkrieg, der kurz darauf ausbrach, zerstörte auch die Hoffnung auf eine freie Fortsetzung seines künstlerischen Wirkens in der Heimat.
Diese Oper steht daher nicht nur am Übergang einer musikalischen Biografie, sondern auch an einer politischen Bruchstelle. Sie ist ein Manifest gegen Zynismus, Gewalt und Geschichtsvergessenheit – ein Werk, das Musik nicht als Unterhaltung, sondern als moralische Instanz versteht.
Text von Polina Sandler