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Die Glasmenagerie

Das im Untertitel von Autor Tennessee Williams als „Ein Spiel der Erinnerungen“ bezeichnete Familiendrama wurde am  26. Dezember 1944 in Chicago uraufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung fand 1946 am Basler Stadttheater statt. In Hollywood wurde das Skript zunächst abgelehnt, bevor DIE GLASMENAGERIE auf den Bühnen der Vereinigten Staaten den künstlerischen Durchbruch für Tennessee Williams als Dramatiker bedeutete. Wie viele seiner Werke weist auch dieses Theaterstück stark autobiografische Züge auf. Der Ort der Handlung ist St. Louis in den 1930er Jahren, genauer die Wohnung der Familie Wingfield, die dort in einer düsteren, heruntergekommenen Seitenstraße lebt. In dieser Stadt verbrachte auch Williams einen Teil seiner Jugend in ärmlichen Verhältnissen, weswegen die Schilderung der entbehrungsreichen und beengten familiären Zustände in seinem Stück besonders viel Raum einnimmt. Die einst umschwärmte Amanda Wingfield lebt mit ihren beiden erwachsenen Kindern Tom und Laura in einer kleinen Wohnung in eher bescheidenen Verhältnissen. Der Autor selbst charakterisiert seine Heldin in einer dem Stück vorangestellten Figurenbeschreibung so: „Eine kleine Frau von großer, aber etwas fahriger Vitalität, die sich krampfhaft an eine andere Zeit und an einen anderen Ort klammert. Ihre Charakterisierung muß sorgfältig aufgebaut und nicht irgendeinem Typus nachgebildet werden. Sie ist nicht paranoid, aber ihr Leben ist es. Es gibt an Amanda viel Bewundernswertes, und so, wie man ihr gegenüber Liebe und Mitleid empfinden kann, muß man auch über sie lachen. Sie beweist große Ausdauer und eine spezielle Art von Heldenhaftigkeit, und obwohl sie durch ihre Verrücktheit manchmal unbewußt grausam wird, ist in dieser zierlichen Person doch auch viel Zärtlichkeit.“

Amanda steht einer Familie vor, in der die Träume größer und glanzvoller als die Wirklichkeit zu sein scheinen. Seitdem ihr Mann die Familie verlassen hat, stellen sich Amanda und ihre beiden Kinder dem täglichen Überlebenskampf, abgehängt von den Glücksversprechen des „Amerikanischen Traums“.  An den Vater erinnert nur ein Foto an der Wand und eine Postkarte, die er seiner Familie schrieb, nachdem er sie verließ: „Hallo – Lebt wohl!“ Auch deshalb muss sich der Sohn Tom als Lagerarbeiter verdingen, um die Familie zu ernähren. Der Tristesse und Trostlosigkeit dieses Alltags entflieht jedes Familienmitglied auf seine eigene Weise: Die Mutter schwärmt von ihrer Jugend und der verlorenen Zeit, in der sie sich gesellschaftlich anerkannt fühlte. Sie umgibt sich mit Erinnerungen an eine längst vergangene Welt voller Verehrer, in der das Leben noch voller Versprechungen vor ihr lag. Jetzt wünscht sie sich nichts sehnlicher, als einen gut situierten Ehemann für ihre Tochter zu finden. Der Sohn, Tom, stürzt sich nachts in den Trubel der Stadt, schreibt heimlich Gedichte und will einfach nur weg aus der Enge und Routine des ungeliebten Jobs und seiner einförmigen, hoffnungslosen Existenz. Die Tochter, Laura, konzentriert sich auf die Sammlung zerbrechlicher Glastiere – ihre Glasmenagerie, die eine eigene wunderliche Welt darstellt. Sie hat es aufgegeben, zur Handelsschule zu gehen, ist viel zu schüchtern, um Männer kennenzulernen oder gar andere Menschen zu beeindrucken. Laura spielt am liebsten mit ihren zarten Glaswesen, die sie in eine märchenhafte Fantasiewelt entführen und die graue Wirklichkeit vergessen lassen. „Amanda hat es zwar versäumt, eine echte Beziehung zur Wirklichkeit herzustellen, und lebt mit aller Kraft in ihren Illusionen, aber Lauras Situation ist noch ernster.“

Als Tom endlich, auf Amandas verzweifelte Bitten hin, seinen Kollegen Jim O’ Connor nach Hause mitbringt, scheint der nicht nur ein idealer Heiratskandidat für Laura zu sein, sondern bietet allen anderen Familienmitgliedern auch eine ideale Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte. Selbst für Amanda scheint ein Hoffnungsschimmer durch den Schleier ihrer wehmütigen Erinnerungen zu dringen. Nach anfänglicher Annäherung von Laura und Jim zerbricht nicht nur eines von Lauras geliebten Glastierchen, sondern auch das fragile Familienkonstrukt – das Gespinst von Lebenslügen und Verdrängungen zerreißt. Und eine Frage, die Amanda formuliert, bleibt: „Und was fangen wir nun mit dem Rest unseres Lebens an? Setzen wir uns hier zur Ruhe und schauen dem Treiben draußen zu?“
Tennessee Williams’ meisterhaftes frühes Kammerspiel ist ein eindringliches Psychogramm über Träume und Realitätsflucht, Lebenslügen und die Sehnsucht nach dem richtigen Leben im falschen.

von Carmen Wolfram