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„Das Gemälde einer verirrten großen Seele“

Aus der ganzen Umgebung, von Heidelberg, Darmstadt, Frankfurt, Mainz, Worms, Speyer usw. waren die Leute zu Roß und Wagen herbeigeströmt, um dieses berüchtigte Stück, das eine außerordentliche Publizität erlangt hatte, von Künstlern aufführen zu sehen, die auch unbedeutende Rollen mit täuschender Wahrheit gaben und nun hier umso stärker wirken konnten, je gedrängter die Sprache, je neuer die Ausdrücke, je ungeheurer und schrecklicher die Gegenstände waren, welche den Zuschauer­innen und Zuschauer vorgeführt werden sollten. Der kleine Raum des Hauses nötigte diejenigen, welchen nicht das Glück zuteil wurde, eine Loge zu erhalten, ihre Sitze schon mittags um ein Uhr zu suchen und geduldig zu warten, bis um fünf Uhr endlich der Vorhang aufrollte.”

„Das Theater glich einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, stam­pfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme. Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht.”

So erinnern sich Zeitzeugen an die Uraufführung der Räuber in Mannheim des Jahres 1782, die für einen handfesten Skandal sorgte und ihren 22-jährigen Autor, Friedrich Schiller, über Nacht berühmt – und berüchtigt – machte. Es war die Geburt eines Literaturstars, von dem gleich am Beginn seiner Laufbahn gesagt wurde, er berechtige zu den schönsten Hoffnungen: „Haben wir je einen deutschen Shakespeare zu erwarten, so ist es dieser“, so schrieb eine der damaligen gelehrten Zeitungen. Andererseits spaltete dieser Autor das Publikum wie kein zweiter – es reagierte entweder begeistert oder angeekelt, ein laues Dazwischen sucht man in Rezensionen und Beschreibungen vergebens.

Ist heute noch jemandem verständlich zu machen, wie bewundernd oder hass­erfüllt einst von diesem Dichter gesprochen wurde? Was ist es, dass die Besucherinnen und Besucher der Uraufführung so erregte? Was ist das für eine Erregung, die sich uns auch heute noch bei der Lektüre des Stückes mitteilt, die also über zweihundert Jahre nachwirkt? Ist es das Wüste, Krude und Verworrene des Textes? Ist es der in ihn eingeschriebene wilde Gestus des Aufbegehrens, mit dem sich der Zorn einer damals jungen Generation über die engen Grenzen gesellschaftlicher Vorschriften und Konventionen im Deutschland ihrer Gegenwart explosiv Bahn brach, trotzdem der Intendant das Stück vorsichtshalber im späten 15. Jahrhundert spielen ließ? Kann diese Wut jede junge Generation teilen, die sich im Aufbegehren gegen das Althergebrachte befindet, kann sich in ihr wiederfinden, erkennen? Ist es das, weshalb dieses Stück auf der Theaterbühne wieder und wieder neu erfunden wurde und immer aktuell erscheint? Oder ist es die leidenschaftliche Sprache des Textes, die so im deutschen Theater nie vorgekommen war und durch ihr kraftvolles Pathos noch immer fasziniert? DIE RÄUBER, seien „das Gemälde einer verirrten großen Seele“, so schreibt „Der Verfasser an das Publikum” aus Anlass der Uraufführung. Karl Moor sei, „ausgerüstet mit allen Gaben zum Fürtrefflichen, und mit allen Gaben – verloren, ein Mann, der von Abgrund zu Abgrund stürzte, in alle Tiefen der Verzweiflung – einen solchen Mann wird man im Räuber Moor beweinen und hassen, verabscheuen und lieben.”

Sind die feindlichen Brüder Franz und Karl, wie manche Literaturwissenschaftler meinen, Selbstprojektionen des jungen Dichters Schiller, der den Aufstand probt gegen die Welt der Väter: des Landesvaters, des leiblichen Vaters und Gott-Vaters? Denn der junge Autor stellt mit seinem ersten Stück jegliche Institution und Autorität auf den Prüfstand. Er geht dabei erstaunlich illusionslos und unsentimental vor: Im Handeln, so zeigt er, ist es nur ein kleiner Schritt vom Bösen zum Guten. Der Schrecken der Herrschaft ist in seinem Stück so groß wie der Schrecken der Herrschaftsbekämpfung. Erst Jahre später wird sich das in der Realität der Französischen Revolution unter Beweis stellen.

Im Stück wird, vom Schlussakt abgesehen, wenig Handlung auf der Bühne gezeigt; dramatische Ereignisse wie etwa der Überfall Spiegelbergs auf ein Nonnenkloster oder die Befreiung eines Kumpans und andere schlimme räuberische Schandta­ten werden nur erzählt, nicht vorgeführt. Schiller interessierten offenbar mehr die philosophisch profilierten Charaktere als das Handlungsgeflecht. Über weite Strecken laufen die Handlungsstränge parallel, ohne miteinander verknüpft zu werden. Obwohl das Motiv der feindlichen Brüder nach dem Muster von Kain und Abel eigentlich eine direkte Konfrontation zwischen Franz und Karl verlangt, kommt es nicht dazu. Auch wird in Karl die Erinnerung an Amalia, seine Verlobte, erst durch die Erzählung Kosinskys wach und lässt in Karl den Entschluss zur Heimkehr reifen, womit wieder Bewegung in die Handlung kommt, die in den beiden Mittelakten zu erlahmen droht.

Das Stück stellt ein grandioses Experi­­ment mit der Freiheit an und eines mit der menschlichen Seele, ihrer Manipulierbarkeit, Verführbarkeit – ein Ansatz, der jeder Generation ein eigenes theatralisches Experiment mit diesem Text ermöglicht.

Die Begegnung mit Schillers Stück bedeutet für den Regisseur unserer Inszenierung, Simon Solberg, die Chance zum Ausloten heutiger Befindlichkeiten der jetzt jüngeren oder jungen Generation: ihrer Möglichkeiten zu Selbstbestimmtheit und Selbstverwirklichung, aber auch ihrer Anfälligkeit für extreme Weltanschauungen und ihres Hanges zu Selbstverliebtheit, Selbstbespiegelung und Vereinzelung.

Die Räuber bereiteten und bestimmten Schillers Weg als Dramatiker, und bis heute ist es gera­de dieses Jugendwerk, das in aktueller Lesart noch immer junge Menschen zur Literatur und theatralischer Auseinandersetzung verführen soll und kann.

von Carmen Wolfram