Uraufführung im Schauspielhaus

216 Millionen

Saisoneröffnung im Schauspiel

216 MILLIONEN von Lothar Kittstein

über Klima, Flucht & Menschenrechte – inszeniert von Volker Lösch

2021 veröffentlichte die Weltbank den zweiten Teil des sogenannten Groundswell-Reports. Laut diesem sollen sich bis zum Jahr 2050 weltweit 216 Millionen Menschen auf der Flucht vor den Folgen des Klimawandels befinden. Im ersten Teil des Berichts war 2018 noch von 143 Millionen Menschen ausgegangen worden. Die Forscherinnen und Forscher benennen den Klimawandel als einen »zunehmend starken Antreiber der Migration« und der Anstieg in den Prognosen innerhalb von nur drei Jahren zeigt, wie unkontrollierbar seine Auswirkungen schon heute sind. Der Bericht zählt u. a. Wasserknappheit, Ernteausfälle, Naturkatastrophen und einen steigenden Meeresspiegel als Folgen auf, die dazu führen, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen.

216 MILLIONEN – die Eröffungspremiere der neuen Spielzeit – widmet sich dem Thema Klima und Flucht und ist Teil der TAGE DES EXILS, die in diesem Jahr nach Ausgaben in Hamburg, Berlin und Frankfurt am Main zum ersten Mal in Bonn stattfinden. Vom 30. August bis 14. September 2024 veranstaltet die Körber Stiftung in Kooperation mit der Bundesstadt Bonn ein Veranstaltungs- und Begegnungsprogramm, u. a. in Kinos, Museen, Initiativen und städtischen Einrichtungen, das Menschen im Exil eine Plattform bietet.

Und auch in 216 MILLIONEN stehen Menschen auf der Bühne, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Sie kommen aus Afghanistan, dem Iran, Haiti und Guinea. Ihre Geschichten handeln von Verfolgung und Gewalt, von Hitze und Stürmen, aber auch von Hoffnung auf ein besseres Leben, Zusammenhalt und Zuversicht.
Ihren Geschichten gegenüber steht das verrückte Schauspiel einer Klimakonferenz, der x-ten ihrer Art – denn wirkliche Ergebnisse oder handfeste Beschlüsse konnte ja noch keine von ihnen liefern. Und in diesem Fall ist der Veranstalter und Finanzier auch noch ein großer Ölmagnat namens Nat, der sich damit brüstet, jetzt auch Teil der Lösung sein zu wollen. Er hat Vertreterinnen und Vertreter aus der Politik und Wissenschaft, aber auch aus Menschenrechts-NGOs und der Kunst eingeladen. Eine überschwängliche Rede folgt auf die andere und doch kreisen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mal wieder nur um sich selbst und verlieren die Opfer der Klimakrise aus den Augen.

Die ranghohe EU-Politikerin Nicola beteuert die europäischen Ideale, wird jedoch von der Menschenrechtsanwältin Elena wegen der Scheinheiligkeit der EU-Grenzpolitik scharf angegriffen. Elenas Mann – der Wissenschaftler Paul – stellt eine bahnbrechende Erfindung vor, mit der die Temperatur der Erde geregelt werden könne. Aber was richtet sie in den Händen der falschen Leute an? Seine Schwester Lisa – eine Aktivistin, die sich für Geflüchtete einsetzt – warnt ihn, dass sein »Superscreen« eher zur Waffe der Mächtigen als zur Hilfe für die Schwachen verkommt.

Als der Künstler Serge, den Nat für seine Klimakonferenz engagiert hat, mit einer Performance-Aktion interveniert, gerät die Veranstaltung aus den Fugen. Erbitterte Beschuldigungen werden ausgetauscht und vereinnahmt von ihren eigenen Ängsten und Sehnsüchten bemerken die VIPs nicht, wie nah die Katastrophe vor ihren Zäunen schon gekommen ist. Für 216 MILLIONEN variiert der Autor Lothar Kittstein Motive aus dem Drama KINDER DER SONNE von Maxim Gorki und verlegt den Elfenbeinturm des russischen Bürgertums während einer Cholera-Epidemie 1892 auf eine Klimakonferenz im Jahr 2024. Wie bei Gorki führt auch in 216 MILLIONEN die Borniertheit der Privilegierten zu ihrem tragikomischen Ende.

»Wohin führt uns die Untätigkeit des globalen Nordens im Angesicht der Klimakrise?«

Wir richten unzählige COPs aus, während schon heute Menschen flüchten, weil ihre Heimat nicht mehr lebenswert ist. Ihr Ziel ist das Exil bei uns im globalen Norden, in Europa, in Deutschland. Die Menschen versprechen sich ein sicheres Leben für sich und ihre Familien, abseits von Bürgerkriegen und Naturkatastrophen und eine Perspektive in der neuen Heimat, Arbeit und ein soziales Umfeld. Niemand verlässt seine Heimat freiwillig, aber wenn es keine Aussicht auf Rückkehr gibt, ist das Exil die einzige Hoffnung.

Doch Europa verkennt das Verursacherprinzip und schottet sich ab – es werden immer höhere Mauern und Zäune gezogen und Pushbacks auf dem Mittelmeer und an der Grenze zu Belarus gebilligt. Und wer es über alle Hindernisse bis nach Deutschland schafft, gerät in die Mühlen eines undurchsichtigen Asylsystems, das sich nach wie vor weigert, die Klimakrise als Fluchtgrund anzuerkennen.
Wie schon in seinen bisherigen Arbeiten am Theater Bonn (u. a. RECHT AUF JUGEND, FIDELIO und BONNOPOLY) stellt der Regisseur Volker Lösch ein Ensemble aus Schauspielerinnen und Schauspielern und Betroffenen zusammen, die gemeinsam auf der Bühne stehen. Aus Interviews und Gesprächen werden Texte generiert, mit denen das Ensemble politische Maßnahmen mit persönlichen Zeugnissen konfrontiert und nochmal ganz vorne anfängt – bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündeten: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren

Text von Jan Pfannenstiel.