Gija Kantscheli im Gespräch
»So habe ich mein Leben gelebt ... Und Sie fragen mich, warum es in meiner Musik so viele dynamische Wechsel gibt?!«
Am 10. August 2025 wäre der georgische Komponist Gija Kantscheli 90 Jahre alt geworden. Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlichen wir erstmals auf Deutsch eines der letzten großen Interviews mit Gija Kantscheli, das er vor zehn Jahren dem Kritiker Alexey Munipov gegeben hat. Das Interview erschien ursprünglich auf Russisch in dem Buch Fermata: Gespräche mit KomponistInnen; eine deutsche Ausgabe ist beim Wolke Verlag in Vorbereitung.
— Glauben Sie, dass manche Völker musikalischer sind als andere?
— Wissen Sie, ich bin nicht besonders gut darin, mein Heimatland oder mein Volk zu loben. Ich habe eine zwiespältige Beziehung zu Georgien: Ich verehre es und kritisiere es zugleich. Aber dass Georgier außergewöhnlich künstlerisch sind, daran habe ich nie gezweifelt. Diese Kunstfertigkeit zeigt sich in allem: in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Fähigkeit, Musik zu machen ... Dabei meine ich nicht professionelles Musizieren, sondern dreistimmige Lieder, die fast alle singen. Ganz zu schweigen vom Humor, mit dem meine Landsleute gut zurechtkommen. Ich war kürzlich in Kutaisi, wo ich ein Konzert gegeben habe. Und der Rektor der Universität Kutaisi, ein sehr sympathischer Mann mittleren Alters, erzählte mir stolz, dass an der Universität Kutaisi elftausend Studenten studieren. Als er meinen Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: zusammen mit der Zweigstelle in der Stadt Poti sind es fünfzehntausend.
Ich erinnerte mich sofort an meine Schulzeit, als uns beigebracht wurde, dass es in Georgien mehr Zahnärzte gibt als in den drei skandinavischen Ländern zusammen. Damals gab es also eine riesige Anzahl von Zahnärzten, und heute gibt es eine riesige Anzahl von Studenten. Nichts hat sich geändert. Ich habe noch darüber nachgedacht, wer sie unterrichtet und was sie lernen.
Als ich das meinem Freund Reso Gabriadse[1] erzählte, der in Kutaisi geboren und aufgewachsen ist, war er ein wenig beleidigt und sagte: Hör mal, wenn in New York jemand eine verstopfte Toilette hat und zwei Handwerker ruft, dann kommt einer davon bestimmt aus Kutaisi. Diese Art von Humor ist nicht nur Reso eigen, sondern unserem ganzen Volk.
– Es scheint, dass es in Georgien einfacher ist, Komponist zu werden als anderswo. Es ist ein unglaublich musikalisches Land, hier singen alle, man ist von Geburt an von Musik umgeben.
– Natürlich ist die georgische Volkspolyphonie ein völlig einzigartiges Phänomen. Ich glaube, dass sie nicht auf Plätzen vor versammelten Menschen entstanden ist. Sie wurde nicht vom Volk komponiert. Sie wurde von genialen Anonymen geschaffen, über die wir nichts wissen. Vielleicht lebte einst in Gurien ein Mensch mit dem Talent eines J.S. Bachs. Er hatte zwei Nachbarn – Beethoven und Mozart – und schlug ihnen eines Tages vor, ein dreistimmiges Lied zu singen... Nur eins kann ich nicht verstehen: Wie konnten sich drei solche Giganten in Kachetien, Kartali, Swanetien und Mengrelien[2] finden? Denn diese Lieder sind völlig unterschiedlich!
Nun, das Verdienst des Volkes besteht darin, dass es immer Menschen gab, die diesen Reichtum an die nächsten Generationen weitergaben und ihn so für uns bewahrten. Ich mag keine kategorischen Aussagen, aber ich glaube, solange wir Georgier unsere Muttersprache sprechen, solange wir unsere eigene Schrift haben und die neuen Generationen das uns hinterlassene musikalische Erbe weiterführen, droht uns keine Globalisierung.
— Dabei war Ihnen die Frage nach dem Verhältnis zur georgischen Volkstradition immer sehr wichtig – und offenbar nicht ganz einfach. Sehen Sie Ihre Musik als Teil dieser Tradition?
— Wissen Sie, für mich steht in der professionellen Musik das Konzept der Individualität über dem Konzept der Nationalität. Jede große Persönlichkeit in der Musik – ich meine damit natürlich nicht mich selbst – repräsentiert immer eine bestimmte Kultur. Messiaen ist Franzose. Bartók ist Ungar. Luciano Berio ist Italiener. Strawinsky ist ein Vertreter der russischen Kultur. Es ist sehr schwierig, einen großen Komponisten zu nennen, der diese Verbindung nicht hätte.
— Das ist doch nicht immer offensichtlich. Welche Kultur repräsentiert Schönberg – die deutsche oder die jüdische? Was ist in Chopin stärker zu hören – das Französische oder das Polnische?
— Nun, Beethoven – welche Kultur repräsentiert er? Natürlich die deutsche. Aber gleichzeitig repräsentiert er auch eine weltweite, globale Kultur. Eine große Persönlichkeit gehört allen Kontinenten. Nehmen Sie Schostakowitsch ... Ich erinnere mich an diesen Mann in den letzten Jahren seines Lebens. Er war ein kranker, nervöser Neurotiker, der ein sehr schwieriges Leben hatte – ich will nicht die allgemein bekannten Fakten über seine Vierte Sinfonie, über seine Opern, über seine Beziehung zum Regime wiederholen. Es scheint, als würde seine Musik die Zeit, in der er leben musste, genial widerspiegeln. Aber wie kam es, dass seine Musik den Zuhörern in Australien, Neuseeland, Südamerika und ganz zu schweigen von Europa so nahe ging? Sie wissen doch nichts über die Bolschewiki, über Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Wissarionowitsch Stalin. Warum ist ihnen diese Musik plötzlich so vertraut geworden? Weil er ein Genie war, das ist alles. Das Gleiche kann man zum Beispiel auch über Mahler sagen.
Erinnern Sie sich an die Musik, die Schönberg vor seiner Hinwendung zur Zwölftontechnik komponierte. Natürlich war er ein Vertreter der österreichisch-deutschen Kultur. Und gleichzeitig auch ein Vertreter der Weltkultur. Stellen Sie sich einmal vor, was vor hundert Jahren in der Musik vor sich ging! Als Strawinsky, Schönberg, Webern, Sibelius, Puccini, Debussy gleichzeitig komponierten ... Können Sie sich vorstellen, was damals zwischen den Verfechter jeder dieser Richtungen vor sich ging?
Und nun sind hundert Jahre vergangen. Die Verfechter sind vergessen. Und in den Philharmoniekonzerten koexistieren Sibelius, Strawinsky, Schönberg und Berg friedlich nebeneinander. Die Zeit hat alles an seinen Platz gerückt. Das gilt übrigens auch für die Avantgardisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es gibt große Namen – Boulez, Stockhausen, Ligeti, Honegger... Sie haben eine sehr wichtige Rolle in der Musikgeschichte gespielt und tun dies auch weiterhin. Dennoch bezweifle ich, dass sie alle in hundert Jahren noch Teil des Konzertlebens sein werden.
Was Alfred Schnittke und Arvo Pärt angeht, bin ich mir aus irgendeinem Grund sicher. Mich persönlich beruhigt die Musik von Arvo Pärt. Ebenso wie die Musik von Walentin Silwestrow, einem weiteren sehr engen Freund von mir. Obwohl er bekanntlich mit ganz anderer Musik angefangen hat. Wissen Sie, aufgrund meiner gesundheitlichen Probleme haben mir die Ärzte verschrieben, täglich anderthalb Stunden spazieren zu gehen ...
– Aber Sie gehen doch nicht gerne spazieren?
– Ich hasse es! Also nahm ich meinen Walkman mit der späteren Musik von Silwestrow mit: seine Chöre, Bagatellen. Ich ging spazieren, hörte zu und wurde ruhig.
— Ihre Gleichgesinnten in der Sowjetzeit waren Komponisten, die im Rahmen einer ziemlich radikalen Avantgarde begonnen hatten: Pärt, Schnittke, Silwestrow, Denisow, Gubaidulina. Sie haben von Anfang an Musik ganz anderer Art geschrieben — tonale Musik, Musik mit Melodien. Haben Sie oft diskutiert?
— Niemals. Meine Kollegen standen meiner Musik generell sehr wohlwollend gegenüber, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Ja, ich habe sozusagen tonale Musik geschrieben. Aber ich glaube, solche Musik wurde damals nicht geschrieben. Können Sie vielleicht ein Beispiel nennen? Es geht doch nicht darum, ob sie tonal ist oder nicht. Es geht darum, welche Dramaturgie, welche Form, welches Konzept sie hat, was der Autor damit ausdrücken will. Die offiziellen Vertreter des damaligen Komponistenverbandes der UdSSR störte meine Musik nicht, sie gefiel ihnen: Sie war anders, aber für sie erträglich, verständlicher als die Musik meiner Freunde. Meinen Freunden wiederum gefiel nicht nur die Musik der offiziellen Funktionäre nicht – für sie existierte sie überhaupt nicht. Sie taten alles, damit es sie nicht gab. Und was geschah dann? Die Musik von Schnittke, Silwestrow und Pärt wurde gespielt, sie wurden weltweit bekannt. Die Zeit siegte, die Funktionäre waren machtlos.
Für mich lief von Anfang an alles ziemlich gut. Und das hat viel mit dem Namen Jansug Kakhidze zu tun, einem unglaublich talentierten, brillanten Dirigenten, der eine entscheidende Rolle in meinem Leben gespielt hat. Er war immer an meiner Seite. Und er begann, meine Musik zu spielen, noch als ich Student am Konservatorium war. Ich habe ihn immer nicht nur als Mitstreiter, sondern als meinen Co-Autor betrachtet. Einen solchen Jansug gab es in den jungen Jahren von Silwestrow, Schnittke und Pärt nicht. Gennadi Roschdestwenski tauchte viel später in Alfreds Leben auf.
Silwestrow hatte Igor Blazhkov, einen brillanten Profi, rein, prinzipientreu, aber dennoch nicht Kakhidze. Neeme Järvi tauchte auch nicht sofort in Pärts Leben auf. Heute spielen ihn alle, aber es gab eine Zeit, in der ihn niemand spielte! Übrigens fand das erste Konzert mit Werken von Arvo Pärt auf Initiative von Jansug Kakhidze in Tiflis statt. Und ich erinnere mich mit großer Dankbarkeit daran, wie wohlwollend meine Musik sowohl von den von Ihnen erwähnten Komponisten als auch von meinen georgischen Kollegen aufgenommen wurde.
— Dabei warf Ihnen ein Teil des georgischen Publikums und der Kritiker vor, Sie seien kein ausreichend georgischer Komponist.
— Was meinen Sie mit »ein Teil«? Fast alle! Außer meinem Kreis. Wir waren nur wenige Leute. Was haben sie mir nur alles vorgeworfen! Dass ich ein Kosmopolit sei. Dass ich nicht-georgische Musik schreibe. Dass ich den Reichtum unserer Folklore völlig leugne. Dass ich avantgardistische Partituren polnischer Komponisten der 1960er Jahre abschreibe. Alles Mögliche! Am meisten wurde ich gerade in Georgien kritisiert. Es gab eine Gruppe von Verteidigern – ich nenne sie »Grenzschützer« –, die wussten, wie man die Grenzen des Nationalen definiert. Diese »Grenzschützer« waren sehr zahlreich. In Moskau und Leningrad gab es weniger Kritik, manchmal sogar Begeisterung, aber in Georgien ...
Natürlich wurde ich nicht nur in meiner Heimat kritisiert. Ich erinnere mich, dass ich 1962, als ich noch Student am Konservatorium war, ein Konzert für Orchester komponierte – ein eher schwaches Werk, obwohl es beim Allunionswettbewerb für junge Komponisten den zweiten Preis gewann. Danach schrieb ein bekannter Komponist in der Zeitschrift Sowjetische Musik: »Kantschelis Musik würde unseren Feinden in den kapitalistischen Ländern gefallen.« Zu den wenigen, die sich für mich einsetzten, gehörten Kara Karaew, Rodion Schtschedrin und Andrej Eschpaj. Alle anderen kritisierten mich heftig. Sie schrieben, dass jede meiner Sinfonien eine Wiederholung der vorherigen sei. Was sie nicht alles schrieben. Seitdem ist so viel Zeit vergangen, ich habe sieben Sinfonien komponiert, und wenn mir heute jemand beweisen kann, dass eine Sinfonie der anderen ähnelt, wäre ich sehr dankbar. Aber das passiert nicht. Generell habe ich das mit Humor genommen und nehme es immer noch mit Humor. Ich erinnere mich, wie Alfred Schnittke mir sagte, als ich bereits ein häufig aufgeführter Komponist war: »Alle fangen an, mich zu loben: Ich sollte nun darüber nachdenken, dass etwas nicht stimmt.«
Und jetzt bin ich dreiundachtzig Jahre alt. Kürzlich ist meine neue CD bei ECM erschienen, und in The Guardian erschien eine Rezension, in der eine ehemalige Klarinettistin, die Musikkritikerin geworden ist, mich in Grund und Boden verriss. Aus irgendeinem Grund schreiben diejenigen, die mich kritisieren, sehr gerne, dass sie sich fühlen, als wären sie in einem Laden mit Parfüms und Shampoos eingesperrt. Zur gleichen Zeit erschien in Paris eine Rezension derselben CD, in der ein französischer Kritiker mich so sehr lobte, dass es mir peinlich ist, es Ihnen zu wiederholen. Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden, aber ich nehme beides gleichermaßen wahr.
Im Rahmen des Festivals von Julian Rachlin in Dubrovnik fand ein Konzert statt, bei dem John Malkovich, begleitet von einem Solistenensemble, kritische Artikel vorlas, die Zeitgenossen über die Musik von Beethoven, Chopin, Mozart geschrieben hatten ... Auch ich gehörte zu dieser Gesellschaft: Die Organisatoren fragten mich, ob ich negative Rezensionen zu meinen Kompositionen hätte. Ich sagte, dass ich einige hätte, und schickte ihnen sieben oder acht. Sie wählten eine aus London aus, in der ein Kritiker über eines meiner Werke schrieb, dass er, hätte er gewusst, welch schreckliche Musik er sich anhören müsse, seine Stricknadeln mit in den Saal gebracht und angefangen hätte, einen Pullover oder einen Schal zu stricken, und zwar aus leuchtend roter Wolle, um etwas Farbe in die triste Atmosphäre der Musik zu bringen. Dann beschreibt er, dass er in einen geschlossenen Raum geraten sei und an die frische Luft wollte, aber nicht konnte ... Kurz gesagt, Malkovich liest das alles vor, und dann spielen sie einen Ausschnitt aus genau diesem Werk von mir vor. Ich finde das alles, Sie werden es nicht glauben, sehr amüsant.
– Es ist unklar, was diesen »Grenzbeamten« nicht gefallen hat. Denn wenn Sie kein georgischer Komponist sind, wer dann? Zumal Sie auch Elemente der georgischen Folklore direkt verwenden.
— Sehr selten. Es gibt ein Werk – Magnum Ignotum –, in dem eine Predigt eines Priesters, ein dreistimmiges gurisches[3] Lied und am Ende ein Kirchenchor zu hören sind. Aber dort habe ich bewusst eine authentische Aufnahme verwendet. Und das ist wahrscheinlich der einzige Fall, in dem ich mich direkt an die Folklore gewandt habe. In der Dritten Sinfonie habe ich weniger Volkselemente verwendet, als vielmehr versucht, drei Motive zu schreiben, die den swanetischen[4] Klagen ähneln. Und ich habe den einzigartigen Sänger Hamlet Gonaschwili, den Solisten des Ensembles »Rustawi«, eingeladen mitzuwirken. Aber dennoch habe ich das selbst komponiert.
Ich habe einmal in Tiflis Feldaufnahmen unserer Folkloristen aus Swanetien gehört. Wissen Sie, wie eine swanetische Beerdigung abläuft? Man lädt professionelle Klageweiber ein, und eine beginnt zu singen, während die anderen, die um den Sarg herumsitzen, ihr nachsingen. Auf der Straße stehen zu dieser Zeit alte Swaneten, bereits zahnlos, und singen ein Lied von einem männlichen, heroischen Charakter. Nun, diesen Folkloristen wurde es nicht gestattet, das Mikrofon in dem Raum aufzustellen, in dem der Verstorbene lag, also stellten sie es im Flur auf. Und das Mikrofon nahm gleichzeitig die Klagen im Raum und das Gesang der Männer im Hof auf.
Als ich mir das anhörte, wurde mir klar, dass es sich um ein echtes Mysterium handelte, absolut genial. Meine Dritte Sinfonie entstand unter dem Eindruck dieser Aufnahme. Aber ich habe dennoch selbst versucht, Motive zu finden, die sowohl dem Gesang der Klageweiber als auch dem Gesang der alten Männer im Hof ähnelten. Es gibt dort keine genauen Zitate. Ich habe unsere musikalische Folklore nie auf diese Weise angefasst. Dennoch haben einige meiner Kollegen (natürlich werde ich diese bekannten Namen nicht nennen) unsere Volksmusik ausgiebig ausgenutzt, indem sie ein Volksensemble hinter dem Sinfonieorchester aufgestellt haben. Für mich war das immer inakzeptabel.
— Sie lieben sogenannte dynamische Kontraste, abrupte Übergänge von sehr leise zu sehr laut. Eine Ihrer CDs erschien sogar mit einem Warnhinweis: »Warning! Extreme dynamic changes«. Das ist ein sehr starkes Stilmittel, etwa so wie drei Ausrufezeichen zu verwenden, aber Sie bleiben ihm seit Jahren treu. Warum?
— Ich weiß nicht, inwieweit Ihnen das, was ich sagen werde, verständlich sein wird. Als ich zur Schule ging, gab es für uns Kinder zwei Götter — einer saß im Kreml, der andere lag im Mausoleum. Es dauerte ziemlich lange, bis meine Generation begann zu verstehen, was wie zusammenhängt.
Mir gefällt Peter Struves[5] Aussage über Wladimir Iljitsch Lenin sehr gut – »die denkende Guillotine«. Diese Guillotine und ihr »großer« Nachfolger Stalin haben Millionen von Menschen so viel Leid zugefügt, dass ich heute, wenn ich höre, dass der letztere in Russland eine gewisse Popularität genießt, einfach nicht verstehen kann, was da vor sich geht. Glauben die Menschen wirklich nicht, was bereits geschrieben steht? Haben sie wirklich weder Schalamow noch Solschenizyn gelesen? Haben sie nicht die Musik von Schostakowitsch gehört? Und sie loben weiterhin das, was man eigentlich ablehnen sollte ...
Dann kam die Tauwetterperiode unter Chruschtschow mit ihren Hoffnungen. Im eisernen Vorhang bildeten sich Risse, und durch diese Risse begann Information hereinzuströmen. Der Kiewer Dirigent Igor Blaschkow schickte mir eine kilometerlange Tonbandspule, auf der das gesamte Werk von Webern aufgenommen war. So verstand ich, dass es neben dem allgemeinen Begriff der Dramaturgie auch noch die klangliche Dramaturgie gibt, und begann, mich in meinem Schaffen so gut es ging darauf zu stützen.
Dann wurden die Risse größer. Wir verstanden, dass es andere Musik, ein anderes Leben gibt. Das erste Fenster nach Europa war für uns das Festival »Der Warschauer Herbst«, zu dem wir manchmal zugelassen wurden. Jedoch lassen Sie mich nicht weiter die Namen all der Generalsekretäre aufzählen, unter denen ich leben musste! Dann der Zusammenbruch der UdSSR, dieses Ungeheuers; das, was der derzeitige russische Präsident als eine »geopolitische Katastrophe« betrachtet. Dann die sogenannte Unabhängigkeit. Der Aufstieg des Nationalismus, den ich überhaupt nicht akzeptieren kann. Als Gamsachurdia Präsident wurde, spaltete sich die georgische Gesellschaft, und ich war froh, Georgien für ein Jahr verlassen zu können, nachdem ich ein DAAD-Stipendium erhalten hatte.
So habe ich mein Leben gelebt ... Und Sie fragen mich, warum es in meiner Musik so viele dynamische Wechsel gibt?!
Ich habe mir eine scherzhafte Antwort ausgedacht: Wenn ich spüre, dass das Publikum einschlafen könnte, wecke ich es mit lauten Episoden wieder auf. Und dann schläfere ich es wieder ein. Das ist ein Scherz, aber vielleicht ist darin auch ein Körnchen Wahrheit.
Aber im Ernst, wahrscheinlich hängt das mit dem zusammen, was um mich herum geschieht. Und dieser Schrecken hört nicht auf. Wenn ich Walentyn Sylwestrow anrufe, diesen ruhigen, intelligenten, tiefgründigen Menschen, der die russische Poesie liebt und sie wie kein anderer kennt, bricht er in echte Hysterie aus, wenn er hört, was in seinem Heimatland vor sich geht. Und ich beruhige ihn. Genauer gesagt, ich versuche es. Aber es gelingt mir nicht.
Ich weiß nicht, ob Sie darüber schreiben werden oder nicht, aber ich bin seit fünf Jahren nicht mehr nach Russland gereist. Nach Russland, dessen Kultur ich sehr liebe, vor der ich mich verneige, der ich viel zu verdanken habe. Den Großen Saal des Moskauer Konservatoriums halte ich bis heute für den besten Saal der Welt. Dort habe ich immer meine Unzulänglichkeiten überprüft. Dabei habe ich meine Musik in den unterschiedlichsten Sälen der Welt gehört, in Australien, in den USA, in Europa ... Ich bin sehr froh, dass man meine Musik in Russland weiterhin spielt, und zwar ziemlich oft. Aber ich fahre nicht mehr dorthin.
Denken Sie bloß nicht, dass ich von den Ereignissen in meiner Heimat begeistert bin. Ich stehe den Geschehnissen in Georgien genauso kritisch gegenüber wie denen in Russland.
— Sie mögen es doch nicht, wenn über programmatische Musik gesprochen wird, darüber, dass Musik etwas Bestimmtes bedeutet.
— Jeder Zuhörer, der in den Konzertsaal kommt, muss sich sein eigenes Programm zusammenstellen. Darin liegt der ganze Reiz der Musik – in ihrer Abstraktheit.
— Und wenn ein Werk eine Widmung hat? Sie haben zum Beispiel Angels of Sorrow (2013) Michail Chodorkowski[6] gewidmet. Stimmt es den Zuhörer nicht schon im Voraus auf eine bestimmte Wahrnehmung ein?
— Ich glaube nicht. Nein, nein. Es ist einfach eine Widmung an einen Menschen, der zehn Jahre lang ohne ersichtlichen Grund in Haft verbracht hat. Das ist alles.
Bei unserem Treffen in Baku wurde meine Fünfte Sinfonie aufgeführt, die dem Andenken meiner Eltern gewidmet ist, und die Vierte Sinfonie ist dem Andenken Michelangelos gewidmet. Aber wenn es umgekehrt gewesen wäre, hätte sich wahrscheinlich nichts geändert. Als ich die Vierte komponierte, lebten meine Eltern noch. Und die Musik, die dem Andenken Michelangelos gewidmet ist, habe ich komponiert, ohne jemals in Italien gewesen zu sein. Ich bin erst später dorthin gereist. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.
Was habe ich mit der Abstraktheit der Musik gemeint? Meine Frau und ich leben schon so viele Jahre zusammen, aber wenn wir dasselbe Stück hören, entstehen bei uns ganz unterschiedliche Assoziationen. Und das ist wunderbar.
– Ihre Kompositionen haben viele erkennbare Merkmale. Zum Beispiel diese dynamischen Wechsel. Oder die Vorliebe für langsame Tempi – Roschdestwenski[7] antwortete Ihnen einmal bei einer Probe, nachdem Sie ihn dreimal gebeten hatten, noch langsamer zu spielen: »So langsam kann ich nicht mehr.« Sie lieben Selbstzitate. Bei Ihnen erklingt immer eine helle, traurige Melodie, die dann vom Orchester überrollt wird. Wählen Sie all diese Techniken bewusst aus oder sind sie im Laufe der Jahre einfach ein Teil von Ihnen geworden – wie die Klangfarbe Ihrer Stimme oder Ihr Gang? Etwas, das man an sich selbst nur schwer bemerkt und noch schwerer ändern kann?
– Ja, das mit dem Gang trifft es genau. Genau wie der Gang. Jeder Mensch geht auf seine eigene Weise, und so schreiben auch meine Komponistenkollegen völlig unterschiedliche Musik, und jeder hat sein eigenes Maß an Begabung. Das ist verständlich. Aber jeder versucht, etwas Eigenes auszudrücken. Eine andere Sache ist, dass das nicht jedem gelingt.
— Hat sich Ihre Einstellung zur Gebrauchsmusik, die Sie für Theater und Kino geschrieben haben, im Laufe der Zeit verändert? Es scheint, dass es für Sie anfangs in erster Linie eine Möglichkeit war, Geld zu verdienen.
— Ich teile meine Arbeit in zwei Teile: Zum einen arbeite ich für mich selbst, zum anderen schreibe ich für Theater und Kino. Dort bin ich ein unterstützendes Glied. Wie auch ein Kameramann, Bühnenbildner, Choreograf. Wenn ich mit mir selbst allein bin, muss ich mein eigenes Theater oder meinen eigenen Film schaffen – dort bin ich sowohl Drehbuchautor, als auch Beleuchter, als auch Dialogautor. Aber ich sage Ihnen ehrlich: Als mir angeboten wurde, die Musik für einen Film mit einem schwachen Drehbuch und einem uninteressanten Regisseur zu schreiben, habe ich zugestimmt. Ich habe die Musik zu fünfzig, vielleicht sogar zu sechzig Filmen geschrieben. Ich kann fünf bis sieben nennen, na gut, zehn. An die anderen erinnere ich mich nicht mehr. Warum? Weil ich dafür zwei Wochen gebraucht und den höchsten sowjetischen Lohn bekommen habe. Und dann konnte ich zwei oder drei Jahre lang eine Sinfonie schreiben. Ehrlich gesagt, habe ich mich sogar über den Gedanken gefreut, dass ich dafür nicht mehr als zwei Wochen brauchen würde. Und ja, das gab mir die Möglichkeit, wirtschaftlich unabhängig zu sein. So wie Alfred Schnittke zum Beispiel. Die Nebenjobs beim Film haben uns sehr geholfen.
Aber das gilt natürlich nicht für die Arbeit mit Giorgi Danelija, Robert Sturua und Eldar Schengelaia. Das hat wahnsinnig viel Zeit und Energie gekostet. Ich hatte einfach das Glück, mit solchen Persönlichkeiten arbeiten zu dürfen. Und genau diese Arbeit hat mich stark beeinflusst. Ich glaube, wenn ich allein bin und meine Musik schreibe, berücksichtige ich unwillkürlich alles, was ich bei ihrer Arbeit beobachtet habe.
Ich bin wohl einfach ein sehr glücklicher Mensch. Denn während die meisten meiner Kollegen mit Bach und Schubert angefangen haben, habe ich mit Glenn Miller und Duke Ellington angefangen. Ich interessierte mich überhaupt nicht für Bach, Schubert, Beethoven oder Schumann. Zu ihnen bin ich erst später gekommen, nach meiner Liebesgeschichte mit dem Jazz.
– Zunächst haben Sie diese beiden Bereiche – Gebrauchsmusik und sinfonische Musik – irgendwie getrennt, aber dann tauchten unbemerkt Melodien aus Filmen und Theaterstücken in Ihrer ernsten Musik auf. Im Finale von Styx, Ihrem Requiem, erklingt der Schlager »Tschito-Gvrito« aus dem Film Mimino.
– Ich war kürzlich bei einer Aufführung meiner Fünften Sinfonie dabei und hörte plötzlich eines der Themen, das in Robert Sturuas Inszenierung von DER KAUKASISCHE KREIDEKREIS vorkommt. Aber wenn Sie mich fragen, was zuerst da war – das Thema im Theaterstück oder die Fünfte Sinfonie –, kann ich Ihnen keine Antwort geben. Ich erinnere mich nicht! Tatsächlich sind irgendwann einige Themen aus meiner Gebrauchsmusik ganz allmählich in die sinfonische Musik eingeflossen – und umgekehrt. Ich sehe darin nichts Schlechtes! Obwohl ich mit meinem Sohn, der einen ausgezeichneten Geschmack hat, ziemlich heftige Diskussionen darüber führe. Ich sage ihm, dass es sich um meine Klangmonogramme handelt. Wie DSCH[8] bei Schostakowitsch. Es ist nichts Schlimmes daran, dass dieselben Themen von mir manchmal in der Kammermusik, manchmal in der sinfonischen Musik und manchmal in Filmen auftauchen. Schlecht ist es, wenn sie sich unverändert wiederholen, das sollte natürlich nicht sein. Aber wenn sich das musikalische Bild verändert, etwas Neues annimmt – dann ist das normal.
— Aber wie haben Sie sich gefühlt, als Sie entdeckt haben, dass Sie in der Lage sind, einen wirklich eingängigen Hit – »Tschito-Gvrito« – zu schreiben?
— Schlecht! Ich habe mich schlecht gefühlt. Jetzt beginnen in jeder ehemaligen Republik der Sowjetunion alle Gespräche über mein Schaffen damit, dass ich diese Melodie geschrieben habe. Ich bin es so leid, immer wieder die gleichen dummen Fragen zu beantworten ... Und im Rest der Welt, in den Musikkreisen, in denen man meinen Namen kennt, hat niemand eine Ahnung, dass ich Musik für Kino und Theater geschrieben habe! Na ja, das macht nichts. Ich habe mich schon daran gewöhnt.
[1] Reso Gabriadse, ein berühmter georgischer Theaterregisseur und Filmautor, der u.a. Drehbücher zu den Filmen Mimino und Kin-dsa-dsa schrieb, für die Kantscheli Musik komponierte.
[2] Gurien, Kachetien, Kartali, Swanetien, Mengrelien: verschiedene Regionen in Georgien.
[3] Gurien, eine Region Georgiens.
[4] Swanetien ist eine historisch-geographische Region im Norden Georgiens, die historisch als kulturell geschlossener Raum betrachtet wird, der über eine besondere Geschichte und Architektur sowie weitere spezifische soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten verfügt.
[5] Struve war ein deutschstämmiger russischer Politiker, Ökonom und Philosoph. Er gilt als der Hauptvertreter des so genannten »legalen Marxismus«.
[6] Michail Chodorkowski ist ein russischer Unternehmer und früherer Oligarch. Von Oktober 2003 bis Dezember 2013 befand er sich aufgrund einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung und planmäßigen Betrugs in Haft. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates bezeichnete den Fall als »politisch motiviert«, und Amnesty International erkannte Chodorkowski als Gewissensgefangenen an. Er bekannte sich nicht schuldig und wurde durch einen Erlass des Präsidenten begnadigt. Nach seiner Freilassung zog er nach Europa und wurde zu einem der prominentesten Gegner Putins im Exil.
[7] Dirigent Gennadi Roschdestwenski (1931-2018)
[8] DSCH ist ein musikalisches Motiv, das der sowjetische Komponist Dmitri Schostakowitsch in seiner Musik verwendete, wenn er sich selbst bezeichnen wollte. Es besteht aus den Noten D – Es – C – H, was zusammengefasst D-S-C-H ergibt. Es steht für seine Initialen (Д. Ш.), und zwar in deutscher Schreibweise (D. Sch.).