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Vor Sonnenaufgang

Die Menschheit liegt in der Agonie / da gibt’s kein Mittel, keine Medizin.

„Die Welt wandelt sich. Wir erleben dies in den neuen Bedrohungsszenarien und Erosionserscheinungen westlicher Demokratien, im Erstarken der Populismen und Fundamentalismen, in der Verrohung und Radikalisierung der politischen Sprache und Diskurse, in der zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaften, dem gesteigerten Argwohn und Missverstehen zwischen Weltregionen und religiösen oder säkularen Wertesystemen. Es ist, als würden wir an der Schwelle zu einer neuen Epoche stehen, deren Name und Bedeutung man noch nicht kennt. Die Ahnung eines kommenden Wandels scheint auch in Gerhart Hauptmanns VOR SONNENAUFGANG unterschwellig präsent zu sein. Aber während der Titel seines Dramas noch hoffnungsvoll den Anbruch eines neuen Tages verheißt, endet es in einer Katastrophe. Im Mikrokosmos des Privaten beispielhaft demonstriert, kündet Hauptmann vom Verschwinden des Humanen. Hinter der zivilisierten Fassade ist der Mensch ein rohes, verzweifeltes, unsolidarisches Tier. Schrecklich, wenn Dr. Schimmelpfennig – die Figur des Arztes im Stück – mit seiner Diagnose recht behalten soll: ‚Die Menschheit liegt in der Agonie.‘ Dann würde die Nacht nur noch mehr Nacht gebären und nach dem Sonnenaufgang nur Dunkelheit auf uns warten.“

So beschrieb der junge Dramatiker Ewald Palmetshofer anlässlich der Uraufführung (Theater Basel) seiner Bearbeitung von Gerhart Hauptmanns Stück sein Interesse an diesem Werk, das vor mehr als hundert Jahren einen der größten Theaterskandale der Geschichte evozierte und den damals 26-jährigen Schriftsteller über Nacht berühmt machte, da er den Schrei einer Gebärenden auf der Bühne hören ließ. Sascha Hawemanns Inszenierung am Theater Bonn folgt den Intentionen des Bearbeiters Palmetshofer und zeichnet ein düsteres Bild der Verfasstheit unserer Gesellschaft am Beispiel der Familie Krause: Egon Krause ist Chef eines mittelständigen Unternehmens in der Autozuliefererbranche und hat damit sein Vermögen gemacht. Er ist in zweiter Ehe mit der (geschäfts-) tüchtigen Annemarie verheiratet. Seine beiden Töchter aus erster Ehe, Helene und Martha, leben mit im Haus der Familie. Martha erwartet ihr erstes Kind von Thomas Hoffmann, dem potentiellen Geschäftsnachfolger ihres Vaters. Die Familie ist im Inneren tief zerrüttet, hält aber nach außen die bürgerliche Fassade aufrecht. Durch den Besuch eines alten Freundes Thomas Hoffmanns brechen die verdrängten Konflikte und niedergehaltenen Spannungen auf.

Alfred Loth, linker Journalist, möchte verstehen, warum sein ehemaliger Mitbewohner aus Studententagen, mittlerweile erfolgreicher Juniorchef des Familienunternehmens Krause, jetzt mit einer eigenen rechtspopulistischen Liste für die Kommunalwahl kandidiert. Was ist aus den gemeinsamen Idealen geworden? Zwischen beiden entflammt ein Streit, in dem die aktuelle politische Spaltung deutlich wird und in Ratlosigkeit mündet.

Auch die beiden Schwestern Helene, gescheiterte Performancekünstlerin, und die schwangere Martha kämpfen mit ihren eigenen Dämonen, während Stiefmutter Anni das Gesicht zu wahren versucht. Derweil holt die Vergangenheit das ehemalige Familien­oberhaupt Egon Krause immer wieder ein und lässt ihn nicht los. Gemeinsam steuert die Familie in Begleitung des Arztes Dr. Schimmelpfennig taumelnd auf den Abgrund zu.

von Carmen Wolfram