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Große Erwartungen

Am Spielfeldrand des Lebens mit MINNA VON BARNHELM

Was das Premierenpublikum der Uraufführung von MINNA VON BARNHELM am 30. September 1767 von diesem Abend erwartete, ist nicht bekannt. Durch zahlreiche Rezensionen ist aber überliefert, was sie nicht erwartet hatten. Denn MINNA war in mehrfacher Hinsicht neu. Lessing hat den Grundgedanken für sein Stück nicht, wie sonst in deutschen Dramen üblich, in literarischen Quellen gefunden, sondern in zeitgenössischen Ereignissen. Er schrieb über seine aktuelle Gegenwart, beobachtete genau und fing den Zeitgeist ein. Er schrieb MINNA während des Siebenjährigen Krieges; die Bühnenhandlung setzt kurz nach dessen Ende ein.

Major von Tellheim ist verwundet und mittellos aus dem Krieg zurückgekehrt. Er wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen, weil man ihm Bestechlichkeit vorwirft. Zutiefst verletzt in seiner Ehre verbietet er sich fortan seine Liebe zu Minna von Barnhelm, die er heiraten wollte. Doch er unterschätzt Minnas Willensstärke und ihre feste Entschlossenheit, ihn unter allen Umständen zu lieben. Sie reist ihm nach, aber Tellheim weist jede Hilfe zurück. In diesem emotionalen Ausnahmezustand denkt sie sich einen Plan aus, der ihm jene selbstlose Menschlichkeit wiedergeben soll, in die sie sich noch vor ihrer ersten Begegnung verliebte.

Das Ende des Krieges bedeutete eine Zeit des Umbruchs, der aufgelösten Strukturen, der Verunsicherung nach der Katastrophe. MINNA war Lessings Versuch, im Rahmen des traditionellen Dramas, verpackt in eine neue Komödienform, zu akuten soziopolitischen Problemen Stellung zu nehmen. Lessing wollte entgegen der gängigen Komödientradition keine lächerlichen, eindimensionalen Typen auf die Bühne stellen, sondern individuelle Charaktere, die durch ihre ganz eigenen Nuancen und ihre psychologische Tiefendimension originell und einzigartig werden. Alle Bühnenfiguren haben eine nachvollziehbare Motivation für ihr Handeln und eine große Glaubwürdigkeit in ihrem Verhalten. Sie sind auf Identitätssuche, begehen Realitätsflucht, sind melancholisch, euphorisch und zum Teil unfähig, sich aufeinander einzulassen. Jeder einzelne ist auf seine Weise radikal im Vertreten seines Standpunkts. Sie flüchten sich in Distanz oder Stolz aus Selbstschutz, wollen Verletzungen entgehen. Doch in all dem Existenziellen ihres Daseins flirrt auch immer eine große Leichtigkeit, eine unbändige Lust am Leben, am Spiel mit den Hoffnungen und Sehnsüchten, an der Verstellung und an den Möglichkeiten, die sich in diesem Transitzustand auftun.Alle Figuren sind im wirklichen und metaphorischen Sinne auf der Durchreise. Ihre zukünftigen Lebenswege sind noch nicht vorgezeichnet und ihre Zukunft ist offen. Viele Szenen bestehen aus Wortwechseln, in denen jede Seite versucht, die Meinung und das Verhalten der anderen zu ändern. Und dabei geht es bei Weitem nicht nur um den herkömmlichen Kampf der Geschlechter. Auch dieser Aspekt ist modern in Lessings Text. Denn die Titelfigur und ihre Freundin Franziska agieren nicht so, wie man es von Frauen im 18. Jahrhundert erwarten würde. Sie entsprechen nicht den gängigen Konventionen, sondern sind geleitet von Selbstverantwortung, Vernunft und Menschlichkeit. Minna ist dabei schwer zu kategorisieren. Sie ist nicht das, was wir heute unter einer Feministin verstehen würden, aber in jedem Fall eine moderne Frau. Sie ist weder eine Widerspenstige, die zu zähmen wäre, noch eine Intrigantin mit Absichten auf einen reichen Trottel. Sie muss sich nicht als Mann verkleiden, um zum Ziel zu kommen. Sie ist kein Fräulein in Nöten, keine Märtyrerin, sie ist kein kokettes Mädchen, ist weder ganz Gefühl noch ganz Verstand, sie ist genauso verständig wie egoistisch, sie hat Fehler, Stärken und Schwächen – kurz, sie ist ein Mensch. Ein autonomes Individuum, das für seine Interessen einsteht und sich nicht zum Knecht gesellschaftlicher Vorgaben macht. Man kann behaupten, dass Lessing sein Idealbild des aufgeklärten willensfreien Menschen in diese Figur eingeschrieben hat. Und dabei spielt das Geschlecht erfrischender Weise keinerlei Rolle.

Regisseurin Charlotte Sprenger untersucht diesen großartigen Text auf unsere heutigen Hoffnungen und Erwartungen hin. Wir erwarten Sie wieder ab dem 12. September im Schauspielhaus. Willkommen in der neuen Spielzeit!

von Nadja Groß