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Chicago's Prettiest Slayers

Eine Spurensuche nach den realen Vorbildern des Musicals

Dass das Musical Chicago seit seiner Uraufführung 1975 und spätestens seit dem Revival 1996 weltweit erfolgreich ist, lässt erahnen, dass der Stoff einen Nerv getroffen hat. Der Mix aus Gangstermilieu und Showbusiness scheint Generationen von Zuschauern zu begeistern. Generationen, denn bereits vor der Entstehung des Musicals wurde das Originaltheaterstück von Maurine Dallas Watkins, das dem Musical zugrunde liegt, zweimal verfilmt. Besonders attraktiv scheint zu sein, dass die Geschichte um die Mörderinnen Roxie Hart und Velma Kelly auf realen Begebenheiten beruht.

Als die idealistische Studentin Maurine Dallas Watkins 1923 ihr humanistisches Studium abbrach, um von nun an als Bühnenautorin die Welt zu verbessern – eine Einstellung, die sie ihr Leben lang beibehielt, und die sie später dazu brachte, sich von ihrem Erstlingserfolg zu distanzieren, der sich so gar nicht für die Idee einer „Schaubühne als moralische Anstalt eignete – zog es sie in die Stadt des Lasters und der Sünde: Chicago. Dort als Journalistin zu arbeiten, so dachte sie, wäre die perfekte Vorbereitung auf eine Schriftstellerkarriere. Als Gerichtsreporterin wurde sie vom Chicago Tribune engagiert, der sich in den 1920er Jahren eine Medienschlacht mit den meist republikanisch geprägten Konkurrenzblättern lieferte. Reporter befragten Zeugen und Angeklagte oft noch vor der Vernehmung, brachen für Fotos in Wohnungen ein und übten durch ihre Berichterstattung Einfluss auf die Gerichtsverhandlungen aus. Es war ein rücksichtsloser Kampf um die Aufmerksamkeit der Leser. Bei dem demokratisch eingestellten Blatt des Medienmoguls William Randolph Hearst musste sich Watkins zunächst im wahrsten Sinne des Wortes einen Namen machen. Nachdem sie vorerst ohne Erwähnung ihres Namens Kurzmeldungen verfasste, suchte sie nach dem Stoff, der sie als Journalistin bekannt machen würde. Auf den musste sie nicht lange warten. Eine Reihe weiblicher Mörderinnen, die nicht in das damalige Frauenbild passten, erregten 1924 die Chicagoer Öffentlichkeit. Dem Weiblichkeitsbild der Zeit entsprechend war es undenkbar, dass eine Frau zur Mörderin wurde. Sie musste also entweder ihre Weiblichkeit verloren haben oder sie wurde durch untreue oder gewalttätige Männer, Alkohol oder, so die Vermutung, Jazz zur Gewalt verleitet. Watkins war einerseits über die prekären Lebensumstände und Gesetzlosigkeit, die in der Metropole herrschten, empört, gleichzeitig lehnte sie aber die reißerischen Artikel ihrer Kollegen ab, die weibliche Delinquenz als determiniert beschrieben. Nun hatte sie die Chance, in einer eigenen Artikelserie ihre moralischen Vorstellungen zu bekräftigen. Der erste aufsehenerregende Fall, über den sie schrieb, betraf Belva Gaertner, die schon zuvor mit den Boulevardmedien kokettierend an ihrem Femme-Fatal-Image gearbeitet hatte. Die ehemalige Vaudevilletänzerin heiratete 1917 in zweiter Ehe den reichen Industriellen William Gaertner. Nach einem halben Jahr wurde die Ehe medienwirksam annulliert. Beide heirateten kurz darauf wieder und lebten kurze Zeit später wieder getrennt. Die Geschichte, die sie nun vorlegte, war skandalös. Ihr Liebhaber war erschossen in einem Auto aufgefunden worden, und die Polizei verhaftete Gaertner in ihrer Wohnung. Ihre Aussage: „Auf dem Weg nach Hause sprachen wir über Straßenüberfälle. Scherzhaft sagte ich: ‚Ich wette, ich schieße besser als du‘. Mr. Law sagte, ich läge falsch. ‚Ich bin ein hervorragender Scharfschütze – ich treffe immer‘, sagte er, lachte und klopfte mir auf die Schulter. Scherzhaft schlug ich vor, eine Münze zu werfen und dass der Gewinner den Verlierer erschießt. Ich sagte, wenn der Gewinner den Verlierer verfehlte, dürfe der andere schießen und so weiter bis einer von uns tot wäre. In der Pistole waren neun Kugeln. Und dann – oh, ich weiß nicht mehr, was dann passierte. Ich war zu betrunken.“

Der Fall wurde ein gefundenes Fressen für die Medien, mit denen Gaertner nur zu gerne kooperierte. Aufsehen erregte auch die Dreistigkeit, mit der sie den durch die Prohibition verbotenen Alkoholkonsum instrumentalisierte, um den Mord zu entschuldigen. In der Gerichtsverhandlung war ebenfalls die Ehefrau des Ermordeten anwesend, der als „Junge, der nicht nein sagen konnte, wenn es um Gin und Frauen ging“ beschrieben wurde. Gaertner hatte bereits mehrmals gedroht, ihn zu töten, wenn er sie verließe. Aus Angst vor ihr hatte er sich kurz vor seinem Tod seine Lebensversicherung auszahlen lassen. Die Geschworenen hatten über einen prominenten Medienstar zu entscheiden, eine Verurteilung ließ einen Skandal erwarten. Sie entschieden sich für einen Freispruch. Während die Witwe bei der Urteilsverkündung in Ohnmacht fiel, lachte Gaertner schallend auf und ließ sich Arm in Arm mit ihren Verteidigern im eigens für die Verhandlung angeschafften Kleid – das selbstverständlich in den Zeitungen ausführlich kommentiert wurde – fotografieren. Nach dem Freispruch heiratete sie William Gaertner erneut, der sich ein Jahr später wieder von ihr scheiden ließ, weil er sie mit einem Geliebten ertappte und sie daraufhin drohte, ihn zu erschießen. So blieb sie eine konstante Größe im Chicagoer Medienrummel.

Eine gänzlich andere Verteidigungsstrategie legte sich Beulah Annan zurecht, die zum Vorbild für Roxie Hart in CHICAGO wurde. Sie hatte ihren Liebhaber erschossen, direkt nach der Tat ihren Ehemann angerufen und um Hilfe gebeten. Bis die Polizei eintraf, lief sie ruhelos in ihrer Wohnung umher und hörte Jazzplatten. Die Zeitungen stürzten sich sofort auf die junge, attraktive Annan, die in den Schlagzeilen zur „Jazz Mörderin“ avancierte. Wie konnte es sein, dass eine so schöne und unschuldig wirkende Frau zur Mörderin wurde? Wieder wurde der Alkohol bemüht. Der Ermordete sei betrunken gewesen, habe sie bedroht und sie sei ihm in Notwehr zuvorgekommen, erklärte sie unter Tränen in immer neuen, sich widersprechenden Versionen. „Both went for the gun“ [Beide griffen nach der Waffe], wiederholten die Verteidiger immer wieder. John Kander und Fred Ebb übernahmen diesen Satz direkt ins Musical. Vor dem Urteil plädierte der Richter noch an die Geschworenen: „Das Urteil liegt in Ihren Händen. Sie haben darüber zu entscheiden, ob Sie es zulassen, dass eine Frau ein Verbrechen begeht und sie davonkommt, bloß weil sie gut aussieht.“ Genau das ließen sie zu.
Nach einem halben Jahr beim Chicago Tribune hatte Maurine Dallas Watkins genügend Material gesammelt. Sie kündigte ihre Stelle und schrieb das Theaterstück CHICAGO, für das sie die Geschichten um Gaertner und Annan um weitere Einzelheiten nach realen Vorbildern ergänzte und vor allem eine satirische Ebene hinzufügte: Das berechnende Spiel mit der Öffentlichkeit und der Einfluss der Boulevardmedien wurden empört thematisiert. Spätestens mit dem Musical wurde der Stoff weltweit erfolgreich. Und auch heute erscheint die Thematik ungemein aktuell. Schön wäre es, sich mit dem Gefühl einer Nostalgie der Gegenwart in den Zuschauersitz zurücklehnen zu können, um die weit entfernte, raue Vergangenheit zu betrachten – aber die Medienwelt hat sich kaum geändert. Manche Stoffe scheinen wohl immer aktuell zu bleiben.

von Constantin Mende