SIBIRIEN

Es ist eine ungeheure Liebestat

Die italienische Oper auf russischen Wegen

Szenenfoto SIBIRIEN

Trotz des Lokalkolorits bedeutet SIBIRIEN für Umberto Giordano, den Komponisten von ANDREA CHENIER und FEDORA, ein allgemeingültiges menschliches Drama: »Die Liebe und der Schmerz besitzen keine Nationalität.«
Als Mitglied der »Giovane Scuola«, der Jungen Schule, wendet sich Giordano gegen Giuseppe Verdis Omnipräsenz in den Spielplänen, befeuert den Realismus auf der Opernbühne und orientiert sich an Richard Wagner und Jules Massenet. SIBERIA wurde 1903 an der Mailänder Scala anstelle von Giacomo Puccinis verschobener MADAMA  BUTTERFLY uraufgeführt und hatte einen ungeheuren Erfolg. Im Folgejahr 1904 spielten acht, 1905 sechs und 1906 sieben italienische Opernhäuser das Werk nach – aber auch im Ausland war der Erfolg triumphal: in Paris gab es innerhalb von sechs Jahren gar zwei verschiedene Produktionen. Buenos Aires, Lissabon, Santiago de Chile, Alexandria, Nizza, Mexiko, New Orleans, Stuttgart, Zürich, New York, Berlin, Wien, Budapest und São Paulo folgten in dieser Reihenfolge.
Was allerdings auch schon damals erkennbar wurde, war der Umstand, dass der überlebensgroße Erfolg von ANDREA CHENIER sich in dieser Form nicht würde wiederholen können. Dennoch lässt sich sehr wohl eine gewisse Aufführungstradition nicht von der Hand weisen – allein an der Uraufführungsstätte, dem Teatro alla Scala di Milano, sind bis heute mindestens vier Neuinszenierungen zu verzeichnen gewesen. Auch die vergleichsweise hohe Zahl von Tonträgereinspielungen, entstanden zumeist als Mitschnitte von (italienischen) Bühnenaufführungen, belegen das nach wie vor durchaus vorhandene Interesse von Opernfreunden und -freundinnen an diesem »Sex-and-Crime-Reißer«.

Szenenfoto SIBIRIEN

Es ist eine ungeheure Liebestat, wenn Stephana ihr Leben als Kurtisane im eleganten Stadtpalais in St. Petersburg aufgibt, um ihrer wahren Liebe Vassili ins sibirische Straflager zu folgen. Dort, in der Verbannung, wandelt sich Stephana zur unerschütterlichen Heldin.

Die effektvolle und dichte Handlung, die lebendige Emotionalität der Figuren und den imposanten Chor zeichnet Umberto Giordano in seiner italienischen Oper SIBIRIEN (SIBERIA) im Stil des Verismo. Leidenschaft liche Ausbrüche gipfeln in der erotischen Ekstase des Liebespaares und bestechen durch Wahrhaftigkeit der Gefühle, vertieft durch nahezu filmische Rückblenden. Faszinierende russische Klänge von der Zarenhymne bis zum volkstümlichen Lied der Wolga-Schlepper sind in die packende Musik eingebettet.

»Die Liebe und der Schmerz besitzen keine Nationalität«

Nach der Auff ührung bei den Bregenzer Festspielen im Sommer 2022 – entstanden in Koproduktion mit der Oper Bonn – schrieb Manuel Brug in der »Welt«: »Hier findet nicht nur eine käufliche Frau ihre wahre Liebe in der Tundra-Einöde und stirbt Metier-gerecht am Ende. Eine zweite Frau, ihre im Gulag geborene Tochter, sucht per Schwarzweißvideo und auch auf der Bühne zwischen den historischen Protagonisten agierend, von Rom aus die slawischen Ursprünge ihrer Familie. Mit der Urne ihres Bruders sinkt sie am Ende neben der sterbenden Mutter in den Schnee.«

Szenenfoto SIBIRIEN

Regisseur Vassily Barkathov – der hiermit an der Bonner Oper debutiert und in den nächsten Jahren weitere Arbeiten präsentieren wird – setzt also auf authentisches Flair und ein  wirklichkeitsnahes Russland aus dem Geiste einer literarischen Vorlage, die nicht ganz eindeutig zu benennen ist, wenngleich vielfach in der Literatur auf Lew Tolstois Auferstehung verwiesen wird; Franco Alfano, Giordanos Komponistenkollege und den meisten Opernfreunden und -freundinnen nurmehr als Vollender von Puccinis TURANDOT bekannt, hatte fast zeitgleich mit SIBERIA seine RISURREZIONE herausgebracht, die , – auf Tolstoi bezieht – ein wirklicher Beleg dafür, dass Russland als neuer »exotischer« Schauplatz Asien zwar nicht ablöste, aber in jedem Falle so etwas wie zur Seite trat.

Giordano hatte in Italien mit FEDORA vorgelegt – und selbst im deutschsprachigen Raum kam mit TATJANA von Franz Lehár (1905) die neue Mode zum Tragen. Das letzte erfolgreiche Werk dieser Zeiterscheinung war 1912 Ruggero Leoncavallos Puschkin-Vertonung ZINGARI.

Für das Bonner Opernpublikum wird die von Daniel Johannes Mayr dirigierte und von Yannick Muriel Noah und George Oniani als Liebespaar gesungene Produktion von Umberto Giordanos SIBERIA die Erstbegegnung mit dieser extrem populären Rarität sein.

Text von Andreas K.W. Meyer

 

Zur Produktion SIBIRIEN
Premiere am 12. März 2023

Szenenfoto SIBIRIEN
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