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Denn die Wände der Zeit sind durchlässig

Auszug aus einem Gespräch zwischen der Autorin Christa Wolf und dem Autor Doğan Akhanlı, das nie stattfand.

Fotomontage DOĞAN AKHANLI & CHRISTA WOLF

Doğan Akhanlı, Autor und Menschenrechtler, geboren 1957 in Şavşat, Türkei, und Christa Wolf, eine der wichtigsten Autorinnen der Nachkriegszeit, geboren 1929 in Landsberg an der Warthe (heutiges Polen), sind nicht nur in verschiedenen Jahrzehnten aufgewachsen, sondern auch in unterschiedlichen Ländern und mit anderen kulturellen Hintergründen. Sie sind sich zu Lebzeiten nie begegnet, und doch spürt man bei näherer Beschäftigung ihre geistige Verwandtschaft. Beide beschäftigten sich literarisch und innerhalb ihres sozialen und politischen Engagements mit ihrer eigenen »Ortlosigkeit«.
Doğan Akhanlı verließ als politisch Verfolgter die Türkei Anfang der Neunziger und kam nach Deutschland. Christa Wolf verließ ihr Land, die DDR, nie – ihr Land verschwand. Dieses Ortlos-sein begriff sie als Chance, denn man sehe, so Wolf, von diesem Nicht-Ort aus besser auf die Welt. Und Autorin und Autor sind Menschen, die mit sehr offenen Augen durchs Leben gegangen sind. Sensibilisiert für Missstände und Unrecht.

»Wir können mit unserem Wissen um das Richtige und Gerechte die Bedeutung der Vergangenheit wahrhaftig verändern.«

Schuld, Erinnerung, persönliche Verantwortung sowie die Humanisierung des Menschen sind Leitmotive, die ihre Werke prägen ebenso wie die Frage, warum das, was wir uns als Gesellschaft an Zivilisation und Humanität erarbeitet haben, so leicht zerstörbar ist. Sie beschäftigten sich u. a. mit der gesellschaftlichen Ausgrenzung des Fremden, des aufgrund seiner Herkunft und Identität Verfolgten. Beide kämpften für die Aufarbeitung der Vergangenheit, für die Notwendigkeit der Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern, den Holocaust, die Opfer der Diktaturen im gesamten 20. Jahrhundert.

Auf textliche und gedankliche Motive von Christa Wolfs Roman MEDEA. STIMMEN aufbauend und diese in einen globaleren Kontext stellend, entwickelte Doğan Akhanlı für das Theater Bonn einen Uraufführungstext mit dem Titel MEDEA38 / STIMMEN. In diesem Stück trifft nicht nur Medea auf Frauenfiguren der türkischen Geschichte, sondern auch Autorin und Autor treffen als Kunstfiguren aufeinander.

Einen Ausschnitt, was sie miteinander verhandelt hätten, wären sie sich je begegnet, lesen Sie im Folgenden:

Doğan Akhanlı: Wir müssen für die Erinnerungslandschaften in Deutschland und der Türkei kämpfen und für ihre Ausweitung eintreten. Deshalb gedenken wir der Gewaltgeschichte hier und in anderen Ländern. Deshalb müssen wir einen transnationalen Erinnerungsraum schaffen und ihn größer und unübersehbarer machen.

Christa Wolf: In den konkreten Verhältnissen, in denen wir leben und schreiben, erwachsen werden – was auch heißt: sehend –, uns einmischen, versagen, wieder aufbegehren und auf neue Erfahrung süchtig sind: In diesen konkreten Verhältnissen ist ein Zustand verantwortungsloser Unschuld nicht vorgesehen.

Doğan Akhanlı: Wenn die Vernichtungspropheten und ihre Komplizen ankündigen, dass sie wieder da sind, müssen wir aufstehen, wir, die wir die Mehrheit sind, und sagen: Wir sind auch da! Wir können mit unserem Wissen um das Richtige und Gerechte die Bedeutung der Vergangenheit wahrhaftig verändern. Wir können die Geschichte der Opfer neu schreiben, tiefer erfassen und umfassender verbreiten.

Christa Wolf: Tatsächlich möchte ich das Vergessen schwieriger machen. Das kann man natürlich verurteilen, und ich weiß, dass es viele verurteilen werden, nach dem Motto: Wenn über eine alte Geschichte endlich Gras gewachsen ist, kommt bestimmt ein Kamel, das es wieder runter frisst. Aber das ist genau meine Funktion. Ich bin hier das Kamel, das das Gras von dieser alten Geschichte runterfrisst – mit voller Absicht. Das möchte ich, das will ich.

Doğan Akhanlı: Nur auf diese Weise werden wir unsere Vorfahren erlösen und uns und unsere Kinder in eine weniger gewalttätige Zukunft entlassen. Aus all dieser Unterdrückung und Tyrannei wird ein neues Leben erstehen, das jene, die an der Macht sind, fürchten, aber von dem wir träumen, und für das wir weiter kämpfen müssen. Indem ich schreibe, erhebe ich meine Stimme gegen Ungerechtigkeit. Es ist mein Widerstandsinstrument. Durch das Schreiben kann ich mich auf literarische Weise mit historischer Gewalt auseinandersetzen. Gewalt geht jeden etwas an. Diese Gewalt ist willkürlich. Das galt für die Juden in Europa genauso wie für den Völkermord an den Armeniern und den Kurden. Diese Menschen wurden durch die willkürliche Ausübung von Macht umgebracht. Damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt, müssen diese Völkermorde des 20. Jahrhunderts immer wieder aufgearbeitet werden.

Christa Wolf: Erkenne dich selbst!, die Losung über dem Tempel von Delphi wird, seit sie den frühen Europäern als Forderung bewußt wurde, von ihnen und ihren Nachfahren aus so vielen Generationen, und am allermeisten von unseren Zeitgenossen, geflohen wie nichts sonst. Doch Menschen, die von sich nichts wissen, sind die sichersten Objekte für Demagogie und Massenwahn. Wenn es stimmt, was ich glaube: dass diese Gefahren wenigstens teilweise aus Unkenntnis des jeweils anderen, aus Angst vor dem Fremden gespeist werden, dann wäre es wohl meine Aufgabe, in wie bescheidenem Maße auch immer, Kenntnisse der Zeit zu vermitteln.

Doğan Akhanlı: Die Vernichtungsseele der Vergangenheit darf nicht wiederkehren.

Christa Wolf: Es ist der Geist der real existierenden Utopie, ohne den jede Wirklichkeit für Menschen unlebbar wird. Sie gibt ein Vorgefühl von einer Gemeinschaft, deren Gesetze Anteilnahme, Selbstachtung, Vertrauen und Freundlichkeit wären. Merkmale von Schwesterlichkeit, die, so scheint mir, häufiger vorkommt als Brüderlichkeit. Menschlichkeit sollte heißen, niemals, unter keinen Umständen einen anderen zum Mittel für eigene Zwecke zu machen und Autorschaft sollte heißen, die eigene Begabung dafür zu nutzen andere erleben zu lassen, dass sie nicht dazu verurteilt sind, lebenslänglich stumm zu sein.

Doğan Akhanlı: Es gibt Wahrheiten, die um so wahrer werden, je mehr Menschen sich dazu entschieden haben, für sie einzustehen.

Christa Wolf: Was sollten wir nötiger brauchen als die Hoffnung, dass wir sein können, wie wir es uns insgeheim wünschen – wenn wir nur wirklich wollen?

Text: Nadja Groß

 

zur Schauspielproduktion MEDEA 38 / STIMMEN