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»Vater, du kannst das doch! Kannst du nicht alles?«

Was ABBA, der Verlust geliebter Menschen und Anderssein mit Theodor Storms DER SCHIMMELREITER zu tun haben.

Die Novelle DER SCHIMMELREITER von Theodor Storm erschien im April 1888 und handelt vom Leben des Hauke Haien. Aufgewachsen in Nordfriesland, erkämpft er sich aus einem einfachen Arbeiterhaus heraus seinen Platz als Deichgraf, findet die große Liebe, mit welcher er eine kleine Familie gründet, revolutioniert, entgegen des Widerstandes der Alteingesessenen seines Dorfes, den Deichbau und findet schließlich in einer Sturmflut sein tragisches Ende.

Seit Februar diesen Jahres arbeiten 18 Bonner Jugendliche wöchentlich unter der Leitung von Regisseur Dominic Friedel und Theaterpädagogin Susanne Röskens an ihrer eigenen Inszenierung auf Grundlage von Storms Werk, die am 21. Mai im Schauspielhaus Premiere feiern wird. Während der ersten Workshops entstanden, ausgehend von Textpassagen der Novelle, direkt aus dem Moment heraus viele Szenenideen – durch Ausprobieren oder spontane Einfälle – und wurden in Intensiv-Workshops während der Osterferien weitergeführt und in einen szenischen Kontext gesetzt. In dieser Zeit lernten die Jugendlichen auch die Ensemblemitglieder Annika Schilling, Christian Czeremnych und David Hugo Schmitz kennen und erarbeiteten von nun an gemeinsam mit ihnen weitere Texte und Szenenausschnitte.

Laut Regisseur Friedel ist dies eine besondere Begegnung, da so zwei Zeitebenen gleichzeitig ablaufen: »Die Gruppe der Jugendlichen bewegt sich bereits in Richtung Zielgerade. Sie finden in der größeren Gruppe – zuvor probten sie meist in Kleingruppen von vier bis fünf Personen – eine neue Dynamik und bereiten sich nun, nach der Workshop-Phase, auf die Aufführungen vor. Die Ensemblemitglieder stoßen jedoch gerade erst dazu und müssen ihren Platz in der Gruppe noch finden, während unaufhörlich in der Gemeinschaft erforscht wird, wie das Stück szenisch auf die Bühne gebracht werden soll.«

Die Proben in den Osterferien ließen einen besonderen, verletzlichen und geschützten Raum aufkommen. »Man hat die Möglichkeit, jetzt Energie und Inspiration zu sammeln, bevor man sich wieder weniger sieht.«, sagt Friedel. Während der Proben und auch in den Pausen entstanden immer wieder Augenblicke, die eine ungewohnte Einsicht in das Leben der Beteiligten ermöglichen. So teilten die Jugendlichen und Ensemblemitglieder Erlebnisse, die sie als besonders prägend empfanden, wie beispielsweise den Verlust einer geliebten Person; und während der Pausen sangen sie gemeinsam Songs wie Knowing me, knowing you von ABBA oder Junge von den Ärzten. In der Novelle selbst, welche zunächst recht brutal wirkt, lassen sich ähnlich sanfte Momente finden.
Beispielsweise im sogenannten Vierblatt: Haukes Tochter Wienke, die alte Dame Trin’ Jans, der Hund Perle, welchen Hauke vor der Opferung beim Bau seines Deiches rettete, sowie die Möwe Klaus, die von Trin’ Jans aufgepäppelt wurde. In den Augen der Dorfgemeinschaft besitzen sie alle einen ›Mangel‹, doch in ihrem Zusammenleben entsteht ein behüteter, fast friedlicher Raum, in dem alles so sein darf, wie es ist. Ähnlich der Ruhe im Auge des Sturms bildet sich »eine das Publikum ergreifende Gruppe, die während des Sturmchaos eine zauberhafte und berührende Welt schafft«, erläutert es Regisseur Dominic Friedel.

Dies ist nur eine der vielen Facetten, die, in der Novelle versteckt, von allen Beteiligten des Projektes an die Oberfläche gebracht und sichtbar gemacht werden. Der Fokus wird indes, so hat die Gruppe entschieden, vor allem auf den Klimawandel und den daraus resultierenden Generationenkonflikten gesetzt. Für alle Jugendlichen ist das Projekt eine neue und spannende Erfahrung. Gemeinsam erarbeiten sie sich den Weg zum bühnenreifen Stück und haben mittlerweile ein Netz aus einzelnen Szenen, Dialogen und Texten produziert, welche in den nächsten Wochen auf der großen Bühne des Schauspielhauses zu einem vollständigen Stück zusammengesetzt werden.
Während der ersten Proben auf der großen Bühne im Schauspielhaus konnte auch ein erster Blick auf das Bühnenbild von Julian Marbach geworfen werden: Geometrische Formen und Rampen in Grau verlaufen, sich vom Zuschauerraum entfernend, in die Tiefe der Bühne, Teile des Podests leuchten durch Metallic-Folien in Pink, Türkis und Kupfer, im Hintergrund stehen fahrbare Wände in den gleichen Farben, die fast schon wie Felsen in die Höhe ragen. Es erinnert an gerostetes Metall und Felsen in der Brandung, die der schieren Kraft des Wassers Tag und Nacht entgegenwirken; dazwischen die Jugendlichen, die in gemeinsam mit der Kostümbildnerin Maria Strauch entworfenen Kostümen die Bühne erkunden.

»Besonders freuen darf sich das Publikum auf die Menschen, die auf der Bühne stehen und ihrem Werk Leben einhauchen werden« beschreibt es Dominic Friedel. In Erinnerung bleiben werden ihm selbst vor allem die Menschen, die mit ihm diese Reise beschritten haben, sowie große und ganz kleine Momente, die die partizipative Arbeit für ihn jedes Mal so besonders machen.

Kjana Fabritius