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Die »Tinta musicale« im Ballo

Dirigent und Verdi-Spezialist Will Humburg spricht über UN BALLO IN MASCHERA

Tinta musicale nannte Verdi das Zusammenspiel von musikalischem Beziehungsgeflecht und Orchesterklang, mit dem er jeder seiner Opern eine eigene charakteristische »Farbe« gegeben hat.

Probenfoto Will Humburg

In UN BALLO IN MASCHERA ist diese zunächst ungewöhnlich hell: Kreuztonarten dominieren bis hin zu den äußerst seltenen sechs Vorzeichen im Fis-Dur von Riccardos Cavatine La rivedrà nell’estasi, im 1. Bild, die damit Riccardo als einen Narzissten charakterisieren, der von der Realität des vorher erklin genden C-Dur (ohne jegliche Vorzeichen) die musikalisch weitestmögliche Entfernung hat. Bezeichnenderweise glaubt er aber diese Realität später ausgerechnet in der »unmöglichen« Liebe zu Amelia wiedergefunden zu haben, denn die beider Liebesduett im 2. Akt  beschließende Cabaletta Oh, qual soave brivido intoniert er eben dann in C-Dur!
Mit fortschreitender Zuspitzung des Dramas auf die Katastrophe hin begegnen wir allerdings immer mehr den weicheren B-Tonarten.

Zudem schreibt Verdi im Vorspiel und im Eingangschor zum ersten Mal in seinem Gesamtwerk zarte Flageolett-Klänge der Violinen vor; und der hohen Piccolo-Flöte gibt er über die ganze Oper hinweg einen ungewohnt ausgedehnten Part, mit vielen kleinen Solo-Einsätzen, besonders im Piano und im Pianissimo. Darüber hinaus verwendet er an entscheidenden Schlüsselstellen des Stückes wiederkehrende Erinnerungsmotive.
Die ersten beiden werden bereits im Vorspiel vorgestellt, sie symbolisieren – musika lisch äußerst plastisch – die beiden antagonistischen Agenzien des Dramas: der drohende Tod Riccardos durch die Verschwörer, ein äußerst leise abgehackt gespieltes Fugato, sowie Riccardos verhängnisvolle Liebe zu Amelia, eine sehnsüchtig zwischen Dur und Moll schwankende Holzbläsermelodie. Ebenso hören wir Amelias verzweifelte, groß ausschwingende E-Dur-Melodie, mit der sie ihre Liebe zu Ric cardo im Terzett des Ulrica-Bildes abtöten will, Consentimi, o signore, noch ein zweites Mal, nämlich im Vorspiel zum 2. Akt, als Vorbereitung ihrer Szene auf dem Galgenhügel.

Doch auch die für die jeweilige dramatische Situation ganz originär erfunden wirkenden Melodien sind melodisch und rhythmisch viel mehr auf einander bezogen, als es beim ersten, oberfl ächlichen Hören den Anschein hat. Von den über hundert mehr oder weniger deutlichen Verwandtschaft en einzelner musikalischer Phrasen untereinander, die sich im BALLO feststellen lassen, seien im Folgen den nur die off ensichtlichsten angeführt:
Nach den ersten drei leisen Geigen-Pizzicati, mit denen die Oper beginnt (die leere Oktave symboli siert hier die Leere vor allem in Riccardos Seele, die dieser geradezu verzweifelt mit seinen Masken spielen, seinem egozentrischen Begehren Amelias und mit der von ihm imaginierten Liebe seines Volkes auszufüllen versucht), ist die im zweiten Takt erklingende Antwort der Flöte und Oboe die musika lische Keimzelle des Werks: Eine ansteigende große Sext, ein fallender Ganzton und eine abschließende Quart aufwärts. Nach Moll gewendet bildet sie – in vierfacher Verbreiterung – später in Amelias zweiter Arie, zu Beginn des 3. Aktes, den Anfang der – danach noch einmal orchestral wiederholten – weit ausschwingenden Melodie des Mittelteils Morrò, ma queste viscere…. Und wieder in Moll, aber mit einer zusätzlichen Durchgangsnote, hören wir diese lntervallfolge auch im zweiten Takt des Verschwörer-Themas.

Probenfoto Will Humburg

Ebenfalls mit einer ansteigenden kleinen Moll-Sext beginnen zu Anfang des 2. Aktes jeweils die ersten drei Phrasen von Amelias Hauptteil ihrer ersten Arie, Ma dall’arido stelo divulsa.
In seiner ursprünglichen Dur-Version, als große Sext, begegnen wir diesem Intervall dagegen als Auft akt zu den drei Strophen der o.a. Cabaletta des großen ekstatischen Liebesduetts im 2. Akt. Und so wohl die Musik nach Riccardos erstem Auft ritt Porgete: a me, a me s’aspetta als auch die aufgesetzt heitere Melodie, mit der Oscar das die Verschwörerszene im 3. Akt beschließende Quintett anführt, beginnen mit ebendieser großen Sext.

Weitere Beispiele:

1. Natürlich sind im 2. Bild Ulricas Prophezeiung für Silvano und die für Riccardo musikalisch praktisch identisch.

2. Auch die Auftrittsmusiken des Richters im 1. Bild sowie von Riccardo, Silvano und schließlich vom Männerchor im 2. Bild - sind alle melodisch, harmonisch und rhythmisch eng miteinander verwandt.

3. Die drei großen »Lach«-Ensembles – das von Riccardo mit forcierter Heiterkeit angeführte im Ulrica-Bild È scherzo od è follia, mit dem er den Schock des geweissagten Todes zu überspielen versucht, das höhnische Auslachen Renatos durch Sam, Tom und den Männerchor am Ende des 2. Aktes Vé’, se di notte sowie das von Oscar mit ausgelassener Lustigkeit angeführte Schlussquintett des 1. Bildes des 3. Aktes – stehen nicht nur alle in B-Dur (wie auch noch einige andere Schlüsselstellen in dieser Oper), sondern sind auch rhythmisch und melodisch untereinander verbunden, denn an allen drei Stellen zwingt Verdi in genialer Weise das Lachen einer oder mehrerer Personen mit dem Entsetzen oder der tödlichen Wut anderer in eine musikalische Gleichzeitigkeit.
Und konsequenterweise endet die Oper nach dem Mord an Riccardo dann auch in b-Moll statt B-Dur: Das Lachen bleibt im Halse stecken und schlägt in der finalen Katastrophe in Entsetzen um!

4. Die Auftrittsmusik der Verschwörer in den Geigen am Ende des 2. Aktes Scerni tu quel bianco velo wird nach dem betreff enden Erinnerungsmotiv mit einer stark verlangsamten Reminiszenz jenen Motivs fortgeführt, mit dem Riccardo das Finale des 1. Bildes angeführt hatte Ogni cura si doni al dilet to: Seine dort ausgesprochene Sucht nach unbedingtem Vergnügen führt hier also direkt in die Kata strophe.

5. Sehr viele wichtige Themen oder Melodien beginnen auf der bzw. als Auft akt zur Mitte des jeweils 1. Takts, statt auf oder vor dessen erstem Schlag.

Schließlich ist im letzten Bild, dem Maskenball, der größtmögliche Kontrast in einer musikalischen Geste verschmolzen:
Zu den Klängen eines von Streichern zum Tanz der Ballgesellschaft hinter der Bühne gespielten frivol heiteren Menuetts singen auf der Bühne die beiden Liebenden ein herzzerreißendes Abschiedsduett angesichts des von Amelia erahnten und uns als Zuschauern bekannten dro henden Todes Riccardos; Eros und Thanatos vor der Folie einer oberflächlichen Spaßgesellschaft !