Gibt es überhaupt noch Utopien?
DAS FLOSS DER MEDUSA
Eine Gruppe junger Menschen allein auf einem Floß mitten im Meer. Sie sind Überlebende einer Katastrophe. Wie die Welt aussieht und in welche gesellschaftliche Situation sie zurückkehren, wissen sie nicht. Auf Rettung wartend, stehen sie vor der Herausforderung als Gemeinschaft zu bestehen oder jeder für sich unterzugehen. Was passiert, wenn eine Gruppe junger Menschen ganz auf sich selbst gestellt in einer unabsehbaren Situation Entscheidungen ins Ungewisse treffen muss? Welche Wertvorstellungen treffen aufeinander? Halten sie am Status quo fest oder entwickeln sie neue Wege des Zusammenlebens?

Für Regisseur Max Immendorf steht dabei nicht so sehr der Überlebenskampf im Vordergrund, sondern »die Frage nach Gemeinschaft und wie wir uns das Zusammenleben in der Zukunft vorstellen wollen. Wir schauen mit diesem Stück wie durch ein Brennglas auf eine kleine Gruppe Menschen in lebensbedrohlichen Umständen. Man könnte sagen, wir befinden uns in einer Laborsituation mit sehr wenigen, aber sehr klaren Parametern.«

Veröffentlicht wurde der Text 1945, kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs.
Auf die Frage, welche Parallelen er zwischen der damaligen Zeit und unserer heutigen sieht, antwortete Max Immendorf es sei »vor allem der gesellschaftliche Rechtsruck in einer Welt, die zwar sehr global ist, aber immer nationaler wird. Es ist beängstigend, dass Begriffe wie Krieg, Aufrüstung oder Wiedereinführung der Wehrpflicht immer weniger Widerstand hervorrufen, sondern im Gegenteil schleichende und stetige Akzeptanz erfahren. Teil des Problems ist die Ungleiche Verteilung der Ressourcen auf unserem Planeten und die ansteigende Konzentration von Reichtum innerhalb einer winzigen Bevölkerungsgruppe.
Georg Kaiser bezog sich mit seinem Text konkret auf den zweiten Weltkrieg und eine Fluchtsituation.«
»In unserer Zeit gibt es«, so Immendorf weiter, »viele verschieden Konfliktherde, die quasi zeitgleich und nebeneinander stattfinden. Kriege, Klimakatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen, Wasserknappheit, Landflucht – man kommt kaum noch hinterher. In diesem Chaos schotten sich einzelne Gruppen und ganze Länder völlig voneinander ab. Und das ist eine große Parallele zum dritten Reich.«

Die Besonderheit dieser Inszenierung ist, dass sie gemeinsam mit Schauspielerinnen und Schauspielern und Jugendlichen aus Bonn entwickelt wird. Interessant an dieser Konstellation findet Immendorf, dass während der Proben viel darüber gesprochen wird, »welche Ängste, Träume und Hoffnungen junge Menschen in der gerade beschriebenen Welt haben. Gibt es überhaupt noch Utopien? Wir reden vor allem über positive Visionen von Gemeinschaft.«, erläutert der Regisseur.
positiv, emphatisch & durchlässig
»Ich habe gemerkt, dass es in den letzten Jahren immer schwieriger wird, sich eine Zukunft vorzustellen, die nicht in der Katastrophe endet.«, stellt Max Immendorf fest. »Und umso mehr überrascht es mich, wie positiv, emphatisch und durchlässig die Jugendlichen sein können, obwohl sie mit so vielen Informationen über Leid und Tod überflutet werden. Sie sind alle in einer globalen Welt groß geworden und haben dadurch eine größere Nachvollziehbarkeit von Zusammenhängen erworben und wissen sehr genau um ihre eigenen Privilegien als Menschen, die im globalen Norden leben, in einem der reichsten und demokratischsten Länder.«

»Damit habe ich mich in meiner Jugend nicht auseinandergesetzt.«, stellt der Regisseur fest. »Das geht auch weit über Fridays for Future hinaus. Sie wissen darum, dass sie das Leben, das wir jetzt führen, nicht weiterführen können. Und so eine Aussage von einer 14- oder 17jährigen Person zu hören, macht mich sprachlos – und gibt mir Hoffnung.«
Das Gespräch führte Nadja Groß, Dramaturgin der Inszenierung.